Aggression im Straßenverkehr: Konflikte zwischen Verkehrsteilnehmern

Aggression im Straßenverkehr: "Es braucht einen Kulturwechsel"

Aggression im Straßenverkehr: Konflikte zwischen Verkehrsteilnehmern

Auf unseren Straßen geht es oft hitzig zu. Da wird beschimpft, der Mittelfinger gezeigt und dicht aufgefahren. Die einen werden als „Rüpelradler“, die anderen als „Automacho“ bezeichnet. Was ist da los, warum geht es im Verkehr oft so emotional zu und was können wir zur Entspannung beitragen? Ein Interview mit der Verkehrspychologin Dr. Angela Francke.
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Frau Dr. Francke, warum geht es bei uns im Straßenverkehr oft zu aggressiv zu?

Gerade beim Zusammentreffen verschiedener Fortbewegungsformen z. B. Radfahren und Autofahren, geht es sehr häufig um den Kampf um eine knappe Ressource: Platz. In Städten ist der Platz, der verschiedenste Ansprüche erfüllen soll (Geschäfte, Außensitzfläche Gastronomie, Fußwege, Radfahrstreifen, Aufenthaltsqualität, Parkplätze, Kfz-Fahrbahnen), sehr begrenzt. Wird jedoch der Blick etwas geweitet, zeigt sich, dass es im Kern eigentlich nicht um den Verteilungskampf an einer spezifischen Stelle geht, sondern um ein besseres Miteinander, um die Stadt als Lebensraum und den Raum, den wir als Gesellschaft lebenswert gestalten wollen.

Hinzu kommen noch andere Erklärungen, wie beispielsweise die unterschiedlichen Unfallfolgen im Falle eines Konfliktes. Im Vergleich mit Autofahrenden sind Radfahrende im Straßenverkehr sehr ungeschützt und müssen bei einem Unfall mit höheren Unfallfolgen rechnen. Gerade Autofahrende können von Radfahrenden so schnell als lebensbedrohliche Gefahr wahrgenommen werden. In brenzligen Situationen kann dies dann häufig dazu führen, dass sehr emotional reagiert wird.

Ein Interview mit der Verkehrspsychologin und Fahrradprofessorin Dr. Angela Francke.

Haben die Konflikte zugenommen oder täuscht dieser Eindruck?

Gerade im Hinblick auf die Klimakrise sind diese Diskussion und daran anknüpfende Maßnahmen noch wichtiger, zeitkritischer und auch präsenter in der Gesellschaft geworden. Für Autofahrende soll sich nach jahrzehntelanger autozentrierter Planung idealerweise nichts ändern, viele möchten gern am Status quo festhalten, wohingegen der Radverkehr und andere aktive Mobilitätsformen zunehmen und damit auch mehr Platz benötigen. Vielleicht sind deswegen auch die direkten Konflikte mehr oder sichtbarer geworden.

Die meisten von uns sind Auto- UND Radfahrer. Warum entstehen trotzdem diese Konflikte unter dem Label „Autofahrer versus Radfahrer“?

Personen identifizieren sich mit ihrem Verkehrsmittel. Sie sagen „Ich bin Autofahrer“ oder „Ich bin Radfahrerin“ und erweitern damit ihre Persönlichkeit durch ein Fahrzeug. Durch diese Persönlichkeitserweiterung stellt die Person sich gedanklich auf eine der beiden Seiten – und dann fühlt man sich häufig persönlich angegriffen, da man ja zuvor Partei ergriffen hat. Würde man die verschiedenen Verkehrsmittel als verschiedene Optionen begreifen, ohne sich auf eine der Seiten stellen zu müssen, ließe sich häufig viel objektiver über dieses Thema diskutieren. Es stimmt, dass viele Menschen bereits heute beide Verkehrsmittel nutzen, manche auch nur ab und an in der Freizeit. Und unabhängig vom Verkehrsmittel wünschen sich die Nutzenden möglichst optimale Bedingungen für das jeweils gerade genutzte Verkehrsmittel. Wichtig ist hier auch das Framing, d. h. dass nicht etwas einer der Parteien weggenommen wird, sondern dass wir durch Umverteilung zu ganz neuer Lebensqualität für alle kommen.

Entspannung im Straßenverkehr: Das kann jeder Einzelne tun!

Autos werden immer größer (Stichwort SUV) und teilweise gibt’s ein richtig aggressives Pkw-Design – was hat das für einen Einfluss auf die Situationen im Verkehr?

Diese Entwicklung ist auf keinen Fall einer lebensfreundlichen Stadt mit der Möglichkeit der aktiven Mobilität für alle zuträglich. Auch wenn das aus individueller Sicht durch höheren wahrgenommenen Komfort und höhere Sicherheit nachvollziehbar ist, ist es doch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ein Schritt in die falsche Richtung. Was in jedem Fall schadet, ist die momentane Flächenverteilung und ein aggressiver Fahrstil, unabhängig vom Pkw-Design.

In einem Pkw sitzt zumeist nur eine Person. Wenn Pkws immer größer gebaut werden, braucht es auch entsprechend breite Straßen und große Parkplätze, während Zufußgehende und Radfahrende einen deutlich geringeren Platzverbrauch haben. Wenn dann noch zu schnell gefahren oder nicht genug Abstand gehalten wird, dann ist das umso gefährlicher, da die Unfallfolgen bei solchen Pkws sehr hoch für den Radfahrenden sind. Darüber hinaus ist auch der Spritverbrauch – und damit die negativen Umweltwirkungen – bei solchen Pkws höher. Diese Art von Entwicklung schadet also neben einem guten Miteinander auf der Straße auch der Umwelt.

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Viele Autofahrer sagen, dass sich Radfahrer zu wenig an Regeln halten. Was sagt die Forschung dazu?

Häufige Fehlverhalten bei Unfällen mit Personenschaden sind eine nicht angepasste Geschwindigkeit, das Nichtbeachten der Vorfahrt oder Fehler beim Abbiegen, Wenden … Dies gilt für Radfahrende und Autofahrende gleichermaßen. Wir müssen uns bewusst machen, dass gefährliche Situationen nicht nur entstehen, weil Verkehrsteilnehmende diese mit Absicht provozieren. Häufig tragen schlechte Sichtverhältnisse, eine tief stehende Sonne, Unaufmerksamkeit, Fehleinschätzungen und vieles mehr dazu bei. Als Verkehrsteilnehmende müssen wir lernen zu verstehen, dass häufig keine bösen Absichten hinter bestimmten Verhaltensweisen stehen.

Wir sind Menschen und machen auch ab und an Fehler. Wichtig ist, dass alle Parteien sich im Perspektivwechsel üben und vorausschauend und fehlerverzeihend unterwegs sind. Das ist insbesondere bei Autofahrenden notwendig, da im Falle eines Konfliktes Radfahrende die deutlich schwereren Unfallfolgen davontragen.

In Berlin gab es 2017 unter dem Stichwort #Automacho eine Kampagne, bei der Vorfälle öffentlich gemacht wurden, in denen speziell Männer eine Rolle spielten. Ist die Aggression im Verkehr männlich?

Was wir wissen ist, dass Männer ein deutlich höheres Risiko haben, an einem Verkehrsunfall zu sterben und das vor allem in einem Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Eine Ursache kann der höhere Testosterongehalt sein. Hinzu kommt auch die Lust am Nervenkitzel, eine höhere Risikobereitschaft und wahrscheinlich auch Imponiergehabe. Außerdem spielt bei Pkw-Unfällen mit Personenschaden bei Männern eine nicht angepasste Geschwindigkeit und Alkoholeinfluss eine deutlich größere Rolle als bei Frauen.

Brauchen wir mehr Kontrollen durch Polizei und Ordnungsamt?

Es wurden in den letzten Jahren neue Formen von Radverkehrsinfrastruktur gebaut, wie z. B. Fahrradstraßen, und Regeln im Straßenverkehr geändert. Viele Personen, die vielleicht schon vor vielen Jahren ihren Führerschein erworben haben, wissen nicht, wie sie sich dort zu verhalten haben, also was erlaubt ist und was eben nicht geht, z. B., dass auf Fahrradstraßen nebeneinander gefahren werden darf. Und auch der Überholabstand von mindestens 1,5 m innerorts zu Radfahren­den ist einigen nicht bekannt. Ich wünsche mir deutlich bessere Regelkenntnis und natürlich tragen Kontrollen dazu bei, dass Regeln eingehalten werden.

Was könnte sonst noch für Entspannung im Straßenverkehr sorgen?

Zum einen kann man sich im Perspektivwechsel üben. Fast alle Erwachsenen kennen die Autofahr-Perspektive aber eben auch die Radfahr-Perspektive. Aus einem anderen Blickwinkel ist das Verhalten des jeweils anderen häufig nachvollziehbarer. Es braucht ein besseres Verständnis, Regelkenntnis und einen Kulturwechsel.

Und zum anderen können verschiedene Maßnahmen zu einer Entspannung im Straßenverkehr beitragen. Solche Maßnahmen wären etwa die Herstellung einer fehlerverzeihenden Infrastruktur z. B., dass an einer Kreuzung die rechtsabbiegenden Kraftfahrzeuge und der geradeausfahrende Radverkehr nicht gleichzeitig Grün haben oder aber eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h in Städten. Damit würde im Falle eines Unfalls die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dabei stirbt, deutlich sinken und könnte somit das Stresslevel reduzieren und für mehr Entspannung im Straßenverkehr sorgen.

Oft liegt die Ursache für Stress und Aggression in beengten und gefährlichen Situationen.

Es gibt schon seit den 1990er Jahren die Idee des Shared Space – dies ist ein Planungs­konzept, das eine gemeinsame Nutzung der Fläche ohne Verkehrsschilder denkt. Ist das aus Ihrer Sicht sinnvoll oder brauchen wir sogar eine stärkere Trennung der verschiedenen Verkehrsteilnehmer?

Das hängt von verschiedenen Faktoren wie Platz, Geschwindigkeit, Parkdruck und Verkehrsaufkommen ab, also insgesamt von der Situation vor Ort. Es gibt daher verständlicherweise kein allgemeingültiges Rezept und keine eindeutige Antwort hier. In einer Nebenstraße mit insgesamt wenig Verkehr reicht vielfach ein Tempolimit und keine eigene Radverkehrsinfrastruktur ist notwendig. Ein Shared Space bzw. eine Begegnungszone kann gut eingesetzt werden auf Flächen, die gleichzeitig von sehr vielen Verkehrsteilnehmenden genutzt werden, mit einem hohen Anteil an zu Fuß Gehenden.

Die Trennung nach Fortbewegungsmitteln ist dann sinnvoll, wenn unterschiedliche Geschwindigkeiten zu Unsicherheiten und Gefahrensituationen führen können. Ziel sollte aber eine sichere und komfortable Infrastruktur für alle sein, und da unterstützen zusätzlich angepasste Ampelschaltungen oder Radaufstellflächen.

In vielen Städten findet einmal im Monat eine Critical Mass statt, oft zum Unmut von Autofahrern, die sich eingeschränkt fühlen. Sind solche Aktionen trotzdem sinnvoll?

Die Frage ist doch, warum solche Aktionen noch notwendig sind bzw. Aufsehen erregen. Es ist wichtig, die Sichtbarkeit des Radverkehrs im Straßenverkehr zu erhöhen und darauf aufmerksam zu machen, dass die Straßen auch den Radfahrenden gehören, dass Verkehr auch den Radverkehr einschließt und nicht nur den Pkw-Verkehr meint. Wie in jeder Gruppe an Menschen, gibt es in allen Gruppen Menschen, die sich nicht an Regeln halten oder durch aggressives Verhalten auffallen und damit ein schlechtes Bild auf die gesamte Gruppe werfen. Trotzdem: Mit jeder Aktion, auch der Kidical Mass z. B., wächst deren Bekanntheit, das Wissen, dass an einem bestimmten Tag und Uhrzeit im Monat eine Aktion stattfindet und auch das Bewusstsein für das Thema insgesamt.

Critical Mass-Rides: Alle Termine und Infos für Deutschland

Frau Prof. Dr. Angela Francke promovierte an der TU Dresden im Bereich Verkehrspsychologie zu umweltfreundlichem Mobilitätsverhalten. Seit Oktober 2021 ist sie „Fahrradprofessorin“ und hat die Leitung des Fachgebietes für Radverkehr und Nahmobilität an der Universität Kassel inne. Dort lehrt sie im neuen Masterstudiengang „Mobilität, Verkehr und Infrastruktur“. Sie forscht interdisziplinär u. a. zu geändertem Mobilitätsverhalten, Fahrradtypen und ganzjährigem Fahrradfahren.

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