Tempo 30 in der Stadt: Mehr Lebensqualität und Gesundheit

Mehr Lebensqualität, weniger Tote und Verletzte

Tempo 30 in der Stadt: Mehr Lebensqualität und Gesundheit

Die Forderung der Weltgesundheitsorganisation WHO nach einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h in den Städten schlug Wellen. Dabei ist die Forderung nicht neu und zahlreiche Beispiele zeigen, was ein solches Tempolimit bewirken wird. Ein Gespräch mit Mobilitätsexpertin Katja Diehl.
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Seit Mitte Mai 2021 gilt in spanischen Städten die Regelgeschwindigkeit von 30 km/h auf allen einspurigen Straßen. In Madrid gibt es diese Regelung bereits seit 2018 – wie Befragungen allerdings zeigen, war dies manchen Autofahrern in der spanischen Hauptstadt gar nicht bekannt, denn häufig ist eine höhere Geschwindigkeit in den genannten Straßen sowieso unmöglich. Auch in Helsinki und Oslo wurde bereits 2019 Tempo 30 als Standard eingeführt. In beiden Städten sind seitdem deutlich weniger Radfahrer und Fußgänger ums Leben gekommen – für Verkehrsplaner ein Beweis, dass die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ein Schritt zum Verkehrswende-Ziel „Vision Zero“ (also: Null Verkehrstote) ist.

Denn jedes Jahr kommen weltweit etwa 1,3 Millionen Menschen bei Unfällen ums Leben. Diese hohe Zahl kann durch verbesserte Infrastruktur, aber auch Geschwindigkeitsbegrenzungen reduziert werden. Studien zeigen: Bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Erwachsenen bei einem Zusammenstoß mit einem Auto noch bei 70 Prozent, bei 50 km/h bei nur 20 Prozent – Kinder und ältere Menschen noch nicht berücksichtigt. Und natürlich geht es nicht nur ums nackte Überleben: Tempo 30 statt 50 in den Städten würde Lärm und Feinstaub reduzieren.

Interview mit Mobilitätsexpertin Katja Diehl

Katja Diehl, warum brauchen wir Tem­po 30 in den Städten?

Ganz klar: Es gäbe weniger Verletzte und Tote, weniger Emissionen und weniger Krach. Unsere Lebensqualität würde enorm steigen. Ehrlich gesagt verstehe ich gar nicht, warum wir das nicht längst haben.

Der Widerstand ist relativ groß. In der Berichterstattung geht es ganz viel um das „Ausbremsen“ von Autos und von einer Einschränkung unserer Freiheit. Was sagen Sie dazu?

Die Medien kommunizieren das oft falsch. Statt zu titeln, dass Autos ausgesperrt werden, können wir von der Befreiung der Menschen sprechen. Dies zu hören und zu lesen würde unsere Perspektive komplett verändern. Wir wissen ja, Sprache schafft Realität. Aber wir haben diese Narrative verinnerlicht. Das zeigt das Thema Tempolimit auf den Autobahnen deutlich. In Deutschland haben wir offensichtlich nichts, worüber wir uns sonst definieren können, das Schnellfahren-Dürfen steckt sozusagen in der DNA Deutschlands. Und dabei gibt es kein echtes Argument für schnelleres Fahren, sondern immer nur „ich will aber“.

Und das gleiche „Argument“ wird beim Tempo 30 in den Städten angebracht?

Ja, absolut. Denn wie kann man rein sachlich gegen eine Geschwindigkeitsreduzierung sein? Tempo 30 sorgt ja sogar für eine Verflüssigung des Verkehrs, das haben Studien gezeigt. Also kommen am Ende alle angenehmer durch die Stadt, auch Menschen im Auto. Ja, der Widerstand ist groß, aber nur wegen der eigenen Bequemlichkeit. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass man irgendwo Tempo 30 einführt und dann irgendwann sagt: Ach nee, das war nicht gut. Als das Rauchverbot in den Gaststätten und der Bahn kam, waren auch erst die Raucher dagegen. Mittlerweile sind doch alle – auch die meisten Raucher – froh, dass im Restaurant nicht gequalmt wird.

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Sie schlagen also vor, einfach das Tempo 30 flächendeckend einzuführen und damit den Menschen zu zeigen, wie Stadt auch sein kann?

Klar, die meisten Menschen haben keine Vorstellung, wie Stadt gestaltet werden kann. Dabei reicht ein Blick in die Vergangenheit: Unsere Städte waren ja mal Begegnungsorte. Lange hatten viele Mobilitätsformen eine ähnliche Geschwindigkeit, sodass man sich auf Augenhöhe begegnete. Auch waren die Menschen in Kutschen, auf Fahrrädern und Co. nicht in isolierten Kapseln unterwegs wie heute in Pkws, was den direkten Kontakt leichter machte. Dann kam das Auto und schnell wurde das Prinzip der autofreundlichen Stadt dominant. Das heißt: Eine gute Stadt ist die, durch die man schnell und einfach mit dem Auto fahren kann. Die Auto-Ära ist eigentlich nur ein Wimpernschlag in der Stadtgeschichte, hat aber unsere Städte komplett verändert. Das muss man sich mal vorstellen!

Auto-Zentrismus in den Städten

Was ist das Hauptproblem an der autozentrierten Stadt?

Probleme gibt es genug, beispielsweise viele Verletzte und Tote. Aber es geht mir insbesondere um Gleichberechtigung in den Städten. Im Moment haben alle, die kein Auto nutzen wollen oder dürfen, einen Nachteil. Beispielsweise auch Kinder. Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten sorgen für Stress, Hektik und Unfälle. Der unterschiedliche Platzverbrauch ist komplett unfair, weil zu wenig Fläche für Bäume, Spielplätze und Begegnungsräume da ist. Ich finde den Perspektivwechsel so wichtig. Wo fahren wir gern in den Urlaub hin? Da, wo es schön ruhig ist, wo man mitten in der Stadt entspannt einen Kaffee trinken kann. Warum holen wir uns nicht diesen Urlaub direkt vor die Tür? Vielleicht bräuchten wir sogar weniger Urlaub, wenn unser Alltag so wäre.

Für viele Deutsche bedeutet ja aber gerade das Auto große Bequemlichkeit. Wie kommt man davon weg?

Es ist wichtig, eine Zukunft zu gestalten, die für alle da ist, und die Verletzbarkeit des Gegenübers in den Blick zu nehmen. Beim Auto wird einfach in Kauf genommen, dass es Verletzte und sogar Tote gibt und dass überall Blech herumsteht. Nach dem Aufkommen der E-Scooter wurde ausführlich über Verletzungsgefahren und herumstehende Scooter diskutiert. Dabei ist das alles lächerlich im Vergleich zu was die Dominanz des Autos für uns bedeutet. Ja, Deutschland ist ein Autoland – aber Studien zeigen, dass die Bevölkerung beispielsweise beim Tempolimit auf den Autobahnen schon weiter ist als die Politik. Die Industrie hingegen erschafft neue SUV-Boliden, die 260 km/h fahren können. Wozu? Wieso wird sowas nicht technisch unmöglich gemacht?

Frau Diehl, fahren Sie noch mit dem Fahrrad in Hamburg?

Ja, ich fahre viel. Ich habe mit der Zeit ein großes Selbstbewusstsein beim Radfahren entwickelt und nehme mir den Raum, der mir zusteht. Aber auch ich fühle mich nicht überall auf dem Fahrrad wohl. Der Unterschied, ob Autos mit 50 oder nur 30 Sachen an mir vorbeifahren, ist groß. Jeder Politiker, der sich mit dem Thema Tempo 30 in der Stadt beschäftigt, sollte das mal ausprobieren.

Zur Person Katja Diehl

Katja Diehl

Katja Diehl kommt aus Hamburg und ist Kommunikations- und Unternehmensberaterin mit Schwerpunkten in Neuer Mobilität, Neuem Arbeiten und Diversität. Sie hält Keynotes, moderiert Events und Workshops und hostet den Podcast #SheDrivesMobility.

www.katja-diehl.de

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