Windchill: Wind sorgt dafür, dass wir frieren. Was Radfahrer tun können
Windschutz für Radfahrer: Was hilft wirklich?
Windchill: Wind sorgt dafür, dass wir frieren. Was Radfahrer tun können
in Service
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Col du Galibier – mit 2645 Metern das „Dach der Tour de France“, und seit 1911 einer der am häufigsten befahrenen Pässe der Frankreich-Rundfahrt. Nach 19 Kilometern Anstieg auf der Nordrampe, mit bis zu zehn Prozent Steigung, ist wohl jeder Radler auf der Passhöhe nassgeschwitzt. Nun folgt eine über 40 km lange Abfahrt ins Tal der Romanche, auf der, wer mag, mit bis zu 90 km/h hinunterbrettern kann. Mit feuchtem Trikot, aus über zweieinhalbtausend Metern Höhe, wo auch im Sommer die Temperatur mal deutlich unter zehn Grad sinken kann? Lange mussten sich Rennradler/innen in solchen Fällen mit einer dicken Zeitung behelfen, die unters Trikot gesteckt wurde, und so den Wind abhielt. Da haben Radfahrende heute bessere Möglichkeiten: Windweste aus der Trikot-Tasche holen, anziehen – und ab geht’s …
Aber warum empfinden wir Temperaturen als niedriger als tatsächlich gemessen, wenn Wind weht, oder wenn wir den Wind auf einer flotten Abfahrt selbst erzeugen? Die Antwort: Windchill. Dieses Wort kennt wohl jeder Outdoor-Sportler – aber was genau bedeutet es eigentlich? Lassen wir doch mal die Fachleute vom Deutschen Wetterdienst DWD zu Wort kommen: „Durch eine erhöhte Windgeschwindigkeit tritt in den Fällen eine Abkühlung im Hautbereich auf, in denen die Haut-Temperatur über der Luft-Temperatur liegt, der sogenannte Windchill-Effekt. Dieser Abkühlungs-Effekt verstärkt sich mit zunehmender Windgeschwindigkeit. Auch bei konstanter Windgeschwindigkeit, aber gleichzeitig zunehmender Differenz zwischen Haut- und Luft-Temperatur ist dies der Fall.“
Windchill und gefühlte Temperatur
Alles klar? Je stärker der Wind also weht, bzw. je schneller wir fahren, umso kälter empfinden wir die Temperatur. Das gleiche passiert, wenn die Haut aufgeheizt ist, durch Sonne oder Anstrengung, und der Unterschied zur Luft-Temperatur größer wird. Sind die Klamotten feucht, kommt ein weiterer Effekt dazu: Verdunstung erzeugt Kälte – wenn der (Fahrt-)Wind also das Trikot trocknet, verdunstet der Schweiß, und es entsteht zusätzliche Kälte.
Die windbedingte Abkühlungswirkung auf die Haut lässt sich sogar messen: mit der „Windchill-Äquivalent-Temperatur“. Nochmal der DWD: „Dabei handelt es sich um diejenige Luft-Temperatur, bei der sich in einer Standard-Umgebung der gleiche Abkühlungs-Effekt einstellen würde wie unter den aktuellen meteorologischen Bedingungen.“ Der Standard: Schatten und leichte Luftbewegung; die Formel (wer auf der nächsten Passhöhe mal selbst ausrechnen mag, wie kalt es ihm auf der Abfahrt dann wird): WcT = 13,12 + 0,6215 × Ta – 11,37 × v 0,16 + 0,3965 × Ta × v 0,16. (Ta ist die Lufttemperatur in Grad Celsius, v die Windgeschwindigkeit in km/h)
Allerdings: Die Windchill-Äquivalent-Temperatur berücksichtigt nicht Luftfeuchtigkeit und Sonnenstrahlung – da muss die „gefühlte Temperatur“ zum Einsatz kommen. Weil: In der Sonne und bei hohem Wasserdampfgehalt der Luft empfindet der Mensch die Temperatur als höher, bei Wind – besonders im Winter – als geringer. Der DWD berechnet die „gefühlte Temperatur“ nach dem von ihm entwickelten „Klima-Michel-Modell“, das den Wärmehaushalt eines Modell-Menschen, genannt Klima-Michel, bewertet. Die „gefühlte Temperatur“ steigt unter sommerlichen Bedingungen viel schneller als die Lufttemperatur an. Ist es kühl, kann sie je nach Wind unter die Lufttemperatur absinken.
Im Behaglichkeitsbereich
Warum ist die „gefühlte Temperatur“ wichtig? Damit der Körper weder zu stark auskühlt noch aufheizt, müssen sich Wärmegewinn und Wärmeabgabe die Waage halten – bei Aktivitäten, und unter wechselnden Umweltbedingungen. Dazu besitzt der Mensch eine Reihe von Regulations-Mechanismen, die unbewusst ablaufen; am wichtigsten sind Thermo- und Kreislauf-Regulation, die eng vernetzt sind. Behaglich fühlt sich der Mensch am ehesten dann, wenn alle Regulations-Systeme minimal aktiv sind. Je stärker sie gefordert werden, umso eher werden die Bedingungen als belastend empfunden.
Damit sind wir wieder bei der „gefühlten Temperatur“: Behaglichkeit stellt sich laut „Klima-Michel-Modell“ des DWD ein bei „gefühlten Temperaturen“ zwischen 0 und 20 °C; weniger als 0 °C erzeugen ein Kälte-, und mehr als 20 °C ein Wärme-Gefühl. Bei zunehmender Abweichung vom Behaglichkeitsbereich kann es zu einer Belastung für das Herz-Kreislauf-System kommen, insbesondere für ältere oder kranke Personen. Letzlich hat jedoch jeder Mensch ein unterschiedliches Wärmeempfinden, das durch Größe, Gewicht, Aktivität, Bekleidung und Sonneneinstrahlung bestimmt wird, aber auch durch Herkunft, und damit etwa Hauteigenschaften oder Gewöhnung an Wärme oder Kälte.
Genug der Theorie – was bedeutet der Windchill-Effekt nun in der Praxis, unter besonderer Berücksichtigung des Radfahrens? Punkt eins: Wer – auch im Sommer! – eine Runde plant mit einem längeren Anstieg, auf dem er/sie vermutlich ins Schwitzen kommt, und einer anschließenden Abfahrt, der sollte auf jeden Fall eine Windweste mitnehmen, um sich auf der Downhill-Passage gegen Auskühlung zu schützen. Punkt zwei: Es sollte auf jeden Fall eine Weste/Jacke aus winddichtem Material sein; ein „normales“ darübergezogenes langärmeliges Trikot lässt in der Regel Luft eindringen, und verhindert das Auskühlen nicht.
Windchill: Die richtige Bekleidung
Damit sind wir bei der geeigneten Kleidung: Welcher Stoff hält eindringende Luft weitgehend ab, bleibt aber trotzdem ausreichend atmungsaktiv, damit kein „Sauna-Klima“ unter der Jacke ensteht? Pionier der dazu nötigen Membran-Technologie war Bill Gore aus Delaware/USA. Er zog 1969 Fäden aus dem von seinem Vater Bob für Elektrokabel entwickelten Kunststoff Polytetrafluorethylen (PTFE) so lange auseinander, bis sie so fein waren, dass er ein Stoff-Gitter daraus weben konnte, das wind- und wasserdicht, aber trotzdem dampfdurchlässig war. Diese Kombination aus Windschutz und Atmungsaktivität minimiert den Windchill-Effekt und reduziert gleichzeitig das Überhitzungs-Risiko bei körperlicher Anstrengung.
Im Jahr 1985 kam die „Giro“ auf den Markt, die erste atmungsaktive Wind- und Regenjacke von Gore-Tex, wie die Marke damals hieß. Lange war die Firma W. L. Gore mit dieser Technologie alleine, bis Alternativen wie Sympatex, Powertex, eVent oder Texapore auf den Markt kamen. Heute gibt es eine große Bandbreite an Outdoor-Kleidung mit Windschutz-Funktion – vom Trikot mit Windstopper-Einsatz auf der Vorderseite über allseits windgeschützte Jerseys, Windstopper-Westen und -Jacken bis zu wärmeisolierten Jacken mit Windschutz und Windstopper-Regenjacken. Selbst Hosen mit Windschutz an Vorder- und Oberseite sind zu haben.
Dabei legen die Hersteller unterschiedliche Schwerpunkte in den Funktionen: Optimaler Windschutz bei gleichzeitig voller Wasserdichte ist schwer machbar. Also gibt es entweder relativ dünne, leicht zu verstauende Westen oder Jacken, die vor allem vor Wind schützen, aber Regen eher wenig und nur kurz abhalten – dafür aber sehr atmungsaktiv sind. An anderen Ende dieser Produkt-Palette stehen meist mehrlagige, relativ schwere und nicht sehr klein verstaubare Regenjacken, die auch stärkeren und längeren Schauern standhalten, dabei durchaus winddicht sind – bei denen man dafür aber in Sachen Atmungsaktivität Abstriche machen muss: In so einer Jacke läuft der Schweiß dann auf einem längeren Anstieg, bei höherer Anstrengung doch stärker.
Wer braucht was?
Wie immer sollte man sich vor der Entscheidung für ein bestimmtes Produkt fragen, wofür man es in erster Linie einsetzen will. Wer eher sportlich unterwegs ist, und auch mal am Feierabend noch eine schnelle Runde dreht, der ist mit einer dünnen, leichten Windstopper-Weste, die sich kompakt in der Trikot-Tasche verstauen lässt, am besten bedient. Wer oft länger fährt, auch im Gebirge und nicht nur im Sommer, der sollte über eine langärmelige Jacke nachdenken, vielleicht sogar über eine Softshell-Version, die meist besseren Nässeschutz und mehr Isolation gegen Kälte bietet. Eine größere Variabilität haben Jacken mit abnehmbaren Ärmeln, bei diversen Radbekleidungs-Herstellern im Programm. Wird es wärmer, können die Ärmel schnell abgezippt werden, was auch eine bessere Belüftung des Oberkörpers zur Folge hat.
Wer bei jedem Wetter auf dem Rad sitzt, stets einen Rucksack dabei hat, aber nicht ganz so flott pedaliert, der kann zu einer vollwertigen Windstopper-Regenjacke greifen, die in vielen Situationen die richtige Wahl ist: Regen, (nicht zu große) Kälte, Wind – in einer leicht isolierten Version vermutlich die beste Wahl für Alltags-Radler. Das meist größere Stauvolumen fällt beim Transport im Rucksack kaum ins Gewicht.
Zurück zum Windstopper: Wie funktioniert der eigentlich? Fragen wir Windstopper-Erfinder Gore: „Ein leichtes textiles Träger-Material wird mit einer ultradünnen Schutzschicht verbunden – laminiert, wie der Fachmann sagt“, weiß Oliver Oppermann, „Global Marketing Leader“ bei Gore: „Diese Membran-Stoffe haben Milliarden von Poren, die 900-mal größer sind als Wasserdampf-Moleküle. So kann Schweiß leicht nach außen entweichen, Wind aber nicht eindringen.“
„Nach den Standards von Gore gilt ein Material nur dann als wirklich winddicht, wenn seine Luftdurchlässigkeit minimal fünf Liter pro Quadratmeter und Sekunde oder weniger beträgt“, so Oppermann weiter: „Diesen Standard erfüllen unsere Produkte problemlos. Viele Materialien wie Mikrofaser, sehr dichte Gewebe oder Fleece werden oft als winddicht bezeichnet – kommen an unseren Standard jedoch bei weitem nicht heran.“
Regenbekleidung für Radfahrer: Worauf achten?
Regenschutz mit DWR
Wer zusätzlich Regenschutz will, braucht eine Jacke mit einer dauerhaft wasserabweisenden Ausrüstung („Durable Water Repellent“, kurz DWR): Sie dringt bei der Produktion in die Fasern ein, senkt die Oberflächenspannung des Textils und führt dazu, dass Wasser Tropfen bildet und schließlich abperlt. Das Ergebnis: weniger Wasseransammlung außen, weniger Auskühlung durch Wind – und geringere Gewichtszunahme der Jacke.
Um seine Technologien und Produkte zu testen, hat W. L. Gore am europäischen Firmensitz in Putzbrunn bei München bereits vor fast 20 Jahren eine Reihe von Test-Labors eingerichtet – beispielsweise auch, um bei unserem Thema zu bleiben, zur Simulation sämtlicher Windbedingungen. Nochmal Oliver Oppermann: „Wir haben unsere eigene Wettermaschine entwickelt, den Storm Cube. Da können wir einfach durch Drücken einer Taste selbst orkanartige Stürme erzeugen, mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 80 km/h. So setzen wir unsere Produkte den vollen Naturgewalten aus und testen unter realen Bedingungen.“
Am wichtigsten jedoch sei der abschließende Komfort-Test, sagt Oppermann: „Komfort beschreibt den Zustand, in dem uns weder zu warm noch zu kalt ist, es besteht ein Gleichgewicht zwischen produzierter und abgegebener Wärme. Beim Komfort-Test vergleichen wir die Labor-Ergebnisse mit der subjektiven Wahrnehmung unserer Test-Personen. Nur das gewährleistet bestmöglichen Komfort, bei unterschiedlichen Aktivitäten und Bedingungen“ – sicher auch in der rasanten Abfahrt vom Col du Galibier …