Eurobike und IAA: Die Zukunft der Fahrradmessen

Das Fahrrad gehört auf die große Bühne

Eurobike und IAA: Die Zukunft der Fahrradmessen

Die Fahrrad-Leitmesse Eurobike verlässt Friedrichshafen Richtung Frankfurt, gleichzeitig will die IAA – inzwischen in München – nun „Mobilitätsmesse“ jenseits von der reinen Auto-Show sein. Der Branchenwandel ist in vollem Gange. Noch unklar ist seine Ausgestaltung. Eine Debatte.
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Was ist das stets idyllisch gewesen, jedes Jahr im September am Bodensee: Die Fahrradbranche machte Station auf ihrer Weltleitmesse im beschaulichen Friedrichshafen, präsentierte eine gute Woche lang ihre Neuheiten Fachpublikum und interessierter Öffentlichkeit. Letztere war zwar immer in Massen vor Ort, trotzdem kannte jeder jeden. Eine schöne, heile Fahrradfamilie eben. So jedenfalls sieht die Eurobike leicht verklärt in der Retrospektive aus. Etwas nüchterner betrachtet trifft doch eher das zu: Fahrradfahrer und Fahrradhändler treffen Fahrradbauer zum munteren Austausch einer insgesamt gesehen doch eher Nischenbranche, ohne dass die breite Öffentlichkeit groß davon Notiz nimmt. Nicht erst Corona hat das Idyll durcheinander gewirbelt. Schon davor verabschiedeten sich immer mehr große und kleine Player von der Eurobike. Zuletzt stellten sich viele die Frage nach dem Sinn einer solchen Messe. Die Antwort gaben die Eurobike-Macher selbst: Ab 2022 findet die Schau nicht mehr am Bodensee, sondern am Main statt. 750.000-Einwohner-Metropole statt 62.000-Seelen-Kleinstadt.

Dass hinter der Ankündigung, von Friedrichshafen nach Frankfurt umzuziehen, eine gehörige Portion Druck steht, zeigt sich eine Woche nach der Eurobike: Die IAA, einst größte Automobilmesse der Welt und ausgerechnet immer am Main zelebriert, geht erstmals in München über die Bühne. Mit dabei ist eine ganze Phalanx großer Fahrradhersteller, von denen einige schon lange nicht mehr in Friedrichshafen gesichtet worden sind. Die IAA will damit – neben dem neuen Namen „IAA Mobility“ – ein klares Zeichen aussenden: „Wir wollen weg vom Auto allein. Wir nehmen auch Fahrrad ernst“.

IAA – Euer Ernst?!

Nicht jeder hält das neue IAA-Konzept für aufrichtig. Ein breites Bündnis aus Umweltschützern und Radfahrverbänden sieht das Fahrrad als Feigenblatt, um dahinter weiter ungezügelt der PS-Obsession zu frönen. Gleichzeitig trauern jetzt schon einige in der Branche dem Bodensee-Idyll hinterher. Zumal noch nicht klar ist, wie das neue Gesicht der Eurobike aussehen wird.

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Chancen für die Eurobike 2022 nutzen

Die Macher der Fahrradmesse haben von der IAA nicht nur Druck bekommen. Die vom Verband der Automobilindustrie (VDA) ausgerichtete einstige Autoschau darf durchaus als Orientierung für das neue Eurobike-Konzept dienen – im Positiven wie im Negativen. „Only Bikes“, das Motto der diesjährigen Abschieds-Eurobike von Friedrichshafen, darf dabei für Frankfurt 2022 gerne als Leitplanke dienen, sollte aber auf keinen Fall zum Dogma werden.

Dass Lupine, ein wichtiger Player auf dem Markt der Fahrradkomponenten, in München gänzlich neue Kontakte knüpfen konnte und sogar von Besuchern als Start-up eingestuft wurde, ist gut fürs Geschäft und gleichzeitig sympathisch-drollig. Es hält der Branche aber auch den Spiegel vor, wie wenig die wichtigen Akteure des Markts „da draußen“ außerhalb der Fahrradfamilie wahrgenommen werden. Weiteres Beispiel gefällig? In der Schweiz – deutlich mehr Fahrradland als Deutschland – kennen viele Menschen einer aktuellen Studie zufolge nicht mal die Marke ihres Fahrrads, verriet uns der Schweizer Szenekenner Urs Rosenbaum. Allenfalls Scott als sportliche Schweizer Marke kennen die Menschen. Nicht einmal Flyer, vielleicht der Inbegriff des eidgenössischen E-Bike-Baus schlechthin, ist der breiten Bevölkerung ein Begriff.

Gleichzeitig wird das Fahrrad als Verkehrsmittel immer wichtiger. Und damit dringen wir langsam zu den Kernfragen vor: Will die Branche eine kleine, heile Familie bleiben oder sich der Herausforderung der Verkehrswende vollumfänglich stellen? Oder lässt sich beides unter einen Hut bringen? Auf den ersten Blick klingt das trivial. Denn schon lange findet die Branche immer wieder Antworten auf die Fragen des täglichen Transports. Das Fahrrad war das erste Massenverkehrsmittel überhaupt. Das Lastenrad gab es schon vor dem ersten Lastwagen mit Verbrennungsmotor. Und in der vergangenen Dekade erst hat der Elektromotor am Fahrrad zu einem gigantischen Boom der E-Bikes geführt. Eine Million E-Autos auf deutschen Straßen? Die hatte Kanzlerin Angela Merkel für vergangenes Jahr in Aussicht gestellt. Erreicht hat Deutschland dieses Ziel in diesem Juli. Fun Fact: Als Merkel das 2013 ankündigte, waren bereits über eine Million E-Bikes in Deutschland unterwegs. Inzwischen sind es mehr als sieben Millionen!

Trotzdem zeigen diese historischen Vergleiche, dass sich die Branche schwertut mit Selbstbewusstsein. Nach außen herrscht immer noch das Bild des Radfahrers als Ökospinner oder Kampfradler vor. Während in vielen Nachbarländern das Fahrrad ganz selbstverständlich Alltagstransportmittel ist und Paris sogar die Champs Élysées autoarm umbauen will, bezeichnen deutsche Politiker wie Christian Lindner und Franziska Giffey eine menschengerechte statt autogerechte Stadt immer noch als „Bullerbü“, das es zu vermeiden gelte.

Gleichzeitig ist es ein Irrweg, auf totalen Konfrontationskurs zu gehen und den motorisierten Individualverkehr – also das Auto – grundsätzlich zu dämonisieren. Denn seien wir ehrlich: Die breite Masse da draußen ist nicht gespalten zwischen Kampfradlern und ewiggestrigen SUV-Fahrern. Wir alle nutzen das Verkehrsmittel, das uns aktuell am komfortabelsten erscheint. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und in Deutschland ist er in den vergangenen sechs Jahrzehnten schon allein aus Gewohnheit mit dem Auto gefahren, sei es in den Urlaub oder 300 Meter zum Bäcker. Viele können sich gar nicht vorstellen, etwas anderes zu nutzen. Aber genau da muss die Radbranche die Menschen abholen. Die tief in unsere Gehirne gebrannte Gewohnheit, dass unser Auto die bequemste, praktischste und effektivste Möglichkeit ist, von A nach B zu kommen, muss durchbrochen werden. Und wir meinen, das muss positiv geschehen. Es muss einfach, bequem, praktisch und effektiv sein, mit dem Fahrrad zu fahren, mit dem Zug oder den öffentlichen Verkehrsmitteln. Dafür müssen die Menschen das Fahrrad als sympathisches Fahrzeug wahrnehmen, sich daran gewöhnen, dass Radfahren eine Freude und praktisch und sicher ist. Natürlich wird das Auto noch sehr lange eine wichtige Rolle im Verkehr spielen. Sie muss aber sukzessive kleiner werden.

Nur 15 Fahrrad-Minuten vom Messegelände entfernt: Die Uferpromenade von Friedrichshafen zeigt sich als perfektes Bodensee-Idyll.

Modern, international und gut angebunden: Der neue Veranstaltungsort Frankfurt soll die Zukunftsfähigkeit der Eurobike als Weltleitmesse garantieren.

Friedlicher Protest

Die Proteste der Fahrradverbände während der IAA waren richtig. Sie waren bunt, vielfältig und friedlich. Sie zeigten: Das Fahrrad ist nicht schmückendes Beiwerk der Automobilindustrie und deren Feigenblatt. Darum gehört es auch nicht auf eine Automesse. War die Teilnahme von Teilen der Fahrradbranche an der IAA darum falsch? Nicht ganz. Denn sie eröffnete den Herstellern viele neue Kontakte, wie uns beispielsweise Licht-Experte Lupine berichtete. Fahrradhersteller und -zulieferer sind Unternehmen, die mit ihren Produkten Geld verdienen müssen. Sie sind keine Aktivisten oder Lobbyisten – zumindest nicht zuvorderst. Aber natürlich haben auch sie ein Interesse daran, dass das Fahrrad in Zukunft seine Aufmerksamkeit und sein Ansehen als Verkehrsmittel auf Augenhöhe bekommt; dass deutlich wird, welches Potenzial im Fahrrad steckt und dass die berüchtigten Nachteile minimal sind. So schlagen wir also den Bogen zur Eurobike 2022:

Allein die Messe in ihrer althergebrachten Form von Friedrichshafen nach Frankfurt zu verpflanzen macht sie – und mit ihr das Fahrrad – in der allgemeinen Betrachtung nicht relevanter. Frankfurt ist ein attraktiver Standort im Herzen von Europa. Aber auch dort lassen sich Fachmessen prima an der breiten Öffentlichkeit vorbei organisieren. Oder haben Sie schon mal von der „Achema“, der „Optatec“ oder der „Light & Building“ gehört? Die Eurobike braucht daher ein neues Konzept. Und da lässt sich viel aus der IAA lernen. Denn der VDA hat versucht, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind – im Stadtzentrum. Die großen Plätze von München, der Marien- und der Königsplatz, waren einbezogen ins Gesamtkonzept. Wer während der IAA in Bayerns Hauptstadt unterwegs war, der kam an der IAA buchstäblich nicht vorbei. Klar hat das nicht jedem geschmeckt. Es gab Einschränkungen für Autos, Fußgänger und Radfahrer. Da hat beileibe noch nicht alles gepasst. Denn wer den Verkehr der Zukunft zeigen will, darf den gegenwärtigen nicht verhindern, vor allem nicht in einer Stadt, in der 900.000 Menschen ihren Arbeitsplatz haben, Hunderttausende Kinder in die Kita und zur Schule müssen und weit mehr als 1000 Mal pro Tag der Rettungsdienst ausrückt. Der Ansatz aber ist genau richtig. Die IAA war präsent, sichtbar, zum Anfassen. Diese Idee sollten sich die Macher der Eurobike zu Herzen nehmen.

Neuheiten 2022 im Newsticker: Räder, Motoren, Zubehör, Bekleidung

Eine bunte Messe für alle

Genau das wünschen wir uns für die Eurobike 2022. Es gibt viele Möglichkeiten, wie die Branche, die Verbände und Vereine auf ihre Anliegen aufmerksam machen können. Es gibt den Parking Day, die Critical Mass und die Kidical Mass. In vielen Städten gibt es immer mehr autofreie Quartiere, Fahrradstraßen und Fahrrad-Aktionstage. Eine lebendige Innenstadt mit Cafés, kleinen Geschäften, Nahversorgern und vor allem sehr viel Platz für Menschen, nicht für Autos, ist attraktiv und rechnet sich. Dort gehen Geschäfte nicht pleite. Das zeigt jede relevante, einschlägige Studie. Diese Ansätze gilt es, während der Eurobike zu bündeln. Verbände sollen die Möglichkeit bekommen, ihre Konzepte eines autoärmeren Miteinanders den Menschen zu zeigen. Es muss Mitmachaktionen geben, die dazu animieren, das Auto stehen zu lassen. Kurz: Das Fahrrad muss als Verkehrsmittel präsentiert werden, das bequem, praktisch und effizient ist. Dazu – auch das hat sich gezeigt – gibt es Bedarf an einem hochkarätig besetzten Kongress. Diskussionen, Vorträge, Exkursionen – all das belebt die Debatte zusätzlich. Auch das alles wünschen wir uns für „unsere“ Eurobike.

Hersteller ziehen nach

Und die Fahrradhersteller? Schließlich ist die Eurobike ein Ort, an dem Geschäfte gemacht werden. Das hat abgenommen in den vergangenen Jahren – auch wegen der vielen Haus- und Ordermessen der großen Händlerverbände. Wenn die Eurobike aber ein attraktives Umfeld schafft, in dem das Fahrrad als vollwertiges, fröhliches und zukunftsträchtiges Verkehrsmittel dargestellt wird, diese Botschaft dadurch auch in der breiten Bevölkerung ankommt, dann werden es sich die Branchengrößen schlicht nicht leisten können, bei diesem Event zu fehlen.

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